„Lichtungen“ von Anne Zdunek
Lichtungen
Über die Malerei von Sylvia Seelmann
Anne Zdunek, Berlin 2017
Schließe dein leibliches Auge,
damit du mit dem geistigen Auge zuerst siehest dein Bild.
Dann förder zutage, was du im Dunkeln gesehen,
daß es zurückwirke auf andere von außen nach innen.
(Caspar David Friedrich)[1]
Die Entstehung der Bilder von Sylvia Seelmann beginnt mit einer subtilen Ahnung,
die sich auf der Bildfläche in malerischen Impulsen entlädt.
Metaphysische, abstrakte Formgebilde und konkrete Landschaften spiegeln –
mal kraftvoll und dynamisch, mal fein und zart – diese Ahnung, dieses Gespür
der Künstlerin für aufeinander einwirkende Kräfte wider, wie in den
querformatigen Bildern der Serie „Space in Motion“. Mit kräftigem Pinselstrich
und intensiven, zum Teil flächig aufgetragenen Farben bringt sie hier die Formen
im Raum in Bewegung – an- und absteigend, von einer zur anderen Seite schwebend,
mal schnell und wild, mal stark verlangsamt.
Akzente aus Licht bilden Kraftzentren und deuten zugleich Übergänge in andere
Dimensionen an, noch deutlicher zu sehen in „Transformation Fields“ und
im „Matrix“-Werkzyklus. Der Betrachter blickt hier auf runde Muster, Strukturen,
die zum Teil als Felder miteinander vernetzt sind und von denen Lichtstrahlen ausströmen.
Was die Künstlerin hier malt, scheint nicht die Abstraktion von uns Bekanntem,
sondern vielmehr der Darstellungsversuch von in meditativer Versenkung
Wahrgenommenem.
Der Eindruck des Dimensionswechsels wird noch eindrücklicher in den großformatigen
Malereien der Serie „Transition“, bei denen die Künstlerin ihren ganzen Körperradius
einsetzt, um in großen Schwüngen energetische Formen zu erzeugen.
Tunnelartige Öffnungen dringen in die Tiefe der Leinwand vor, an deren Ende
der Betrachter von einem intensiven Licht empfangen wird, eingeladen ist,
kontemplativ innezuhalten.
Die Suche nach Lichtungen verfolgt Sylvia Seelmann auch in ihrem neuesten
Werkzyklus „Clearing“. Die expressiven Landschaftsmalereien sind inspiriert
von einer Pilgerwanderung in Italien. Was zuvor in ihren Bildern als Öffnung oder
Farbakzent optische Tiefe erzeugte, zeigt sich hier häufig als Weg in das Gelände hinein,
und das verfehlt seine Wirkung nicht: Der Betrachter erlebt sich selbst als Teil
der Landschaft, als brauche er nur einen kleinen Schritt zu tun, um seine eigene Reise
in die Tiefe zu beginnen. Steine, steile Anstiege, gestürzte Baumstämme, die als Diagonale
den Bildraum kreuzen – manche Hindernisse gilt es auf diesem Weg zu überwinden.
Den ruhig in die Vertikale aufstrebenden Bäumen setzt die Künstlerin durch eine
dynamische Pinselführung ein lebhaftes Spiel aus Blattwerk und Lichtakzenten entgegen.
In den neuesten, besonders spannungsreichen Bildkompositionen sind nicht die Wege,
sondern gefällte oder geborstene Baumstämme ins Zentrum gerückt.
Manchmal zeigt sich der Himmel wie in früheren Bildern als helle Öffnung.
Diese korrespondiert nun mit intensivfarbigen Untermalungen, welche an einzelnen
Stellen sichtbar bleiben und so eine durchlässige Bildstruktur erzeugen.
Ich sehe einen Bezug zu Caspar David Friedrich insofern,
als die Landschaft für ihn eine metaphysische Dimension hat.
Für diese Dimension will ich eine Durchlässigkeit in meinen
Bildern erzeugen.
(Sylvia Seelmann)
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Close your physical eyes,
so that you can see the image with your inner eye first.
Then bring to light what you saw in the darkness,
so that it can affect others from the outside in.
(Caspar David Friedrich)[1]
The creation of Sylvia Seelmann’s images begins with a subtle idea,
which manifests itself on the canvas in pictorial impulses.
Metaphysical, abstract forms and concrete landscapes – sometimes
striking and dynamic, sometimes fine and delicate – reflect this idea and
the artist’s sensitivity for forces which affect one another;
the landscape format paintings in the series “Space in Motion” are one
such example. With strong brushstrokes and intense, sometimes extensively
laid on colors, she imbues the forms in space with movement – rising, sinking,
floating from one side to the other, sometimes fast and wild, sometimes
greatly slowed.
Light accents form power centers and simultaneously imply transitions to other
dimensions; this can be seen even more clearly in “Transformation Fields” and
the work cycle “Matrix.” The observer sees round patterns, structures which are
partially connected to one another as fields and from which rays of light stream.
What the artist has painted here seems to be much less the abstraction of
something that is familiar to us than an attempt to represent something which
she experienced while in meditative contemplation.
The impression of a change in dimension is even more striking in the large
format paintings in the “Transition” series, in which the artist used her entire
range of motion in order to create large, curving, energetic forms. Tunnel-like
openings force their way into the depth of the canvas; at their ends, the observer
is received by an intense light which invites him to pause in contemplation.
The search for openings follows Sylvia Seelmann in her newest work cycle
“Clearing.” The expressive landscape paintings were inspired by a pilgrimage
in Italy. The opening or color accent which had previously created optical depth
in her work appears here as a path into the terrain. This has the desired effect:
the observer experiences himself as part of the landscape, as if he must only take
one short step to begin his own journey into the image. Stones, steep ascents,
upended tree trunks which cross the image diagonally – a number of hurdles
must be overcome on this path. These images are set against trees which quietly
stretch themselves vertically, painted with dynamic brush strokes to create a
lively play between leaves and light accents.
In the newest, particularly suspenseful compositions, the felled or split tree trunks
themselves, not the paths, are now central.
Similar to earlier works, sometimes the sky appears as a bright opening. This now
corresponds with intensely-hued priming coats, which are visible in some places,
thus creating a permeable image structure.
I see the connection to Caspar David Friedrich in the
sense that landscapes had a metaphysical
dimension for him too.
I strive to transmit this dimension in my images.
(Sylvia Seelmann)
[1] Gerhard Eimer: “Friedrich, Caspar David. Äußerungen bei Betrachtung einer Sammlung von Gemählden
von größtenteils noch lebenden und unlängst verstorbenen Künstlern.” (Edited by Gerhard Eimer and Günther Rat),
Kritische Edition der Schriften des Künstlers und seiner Zeitzeugen, Part 1, Frankfurter Fundamente der
Kunstgeschichte, XVI, Frankfurt am Main 1999, p. 35
Anna Zdunek, Kunst und Helden, Berlin März 2017