Sumpflandschaften von Dr.Ingrid Gardill

Sumpflandschaften

Dr. Ingrid Gardill, Kunsthistorikern

 

Die Gemälde der Künstlerin Sylvia Seelmann haben eine magische Anziehungskraft. Sie entführen uns in tiefe Dimensionen und öffnen Tore zur Erkundung bislang unbekannter Räume. In ihnen gibt es Platz zum Atmen, Forschen und Entdecken. Dieses Erleben der Freiräume für die eigene Gedankenwelt während des Betrachtens speist sich unter anderem daraus, dass die Malerin ihre künstlerischen Wurzeln in der Abstraktion hat. So wenig Konkretes wie möglich und so viel Realismus wie unbedingt nötig – in diesem Spannungsfeld bewegen sich die Gemälde.

Dabei erschließt sich das Thema der Werkgruppe ganz unmittelbar. Man blickt auf Sumpflandschaften mit knallgrünen Wasserlinsen umgeben von Bäumen, Büschen, Farnen oder Wildwuchs. Das Laub der Bäume, die Stimmung und der Lichteinfall variieren je nach Jahreszeit. Von dieser Ausgangsposition aus scheinen die Varianten unendlich zu sein, bis hin zu surreal anmutenden Bildstimmungen. Doch aus welchem Pool schöpft Sylvia Seelmann, wie fand sie überhaupt zu diesem Thema und was möchte sie den Betrachtern ihrer Bilder eröffnen und mitgeben?


Initialerlebnis und Abstraktion

Eine Pilgerreise im Jahr 2016 nach Assisi führte sie durch die umbrischen Wälder, die einen nachhaltigen Eindruck hinterließen. Es war eine spirituelle Reise, ein echtes Pilgern, das in ihr neue geistige Dimensionen eröffnete. Das tiefe Erleben, selbst Natur zu sein, unmittelbar und nicht getrennt, drängte sie dazu, Natur zu malen – doch in einer Art und Weise, die diese wesentliche Erfahrung in den Bildern verankert und für den Betrachter erlebbar macht.

Interessanterweise wählte sie für die künstlerische Umsetzung einen vollkommen anderen Weg als den Klassischen. Die Entwicklung der Abstraktion in der europäischen Kunst um 1900 gründete bereits in der intensiven Suche nach einem adäquaten künstlerischen Ausdruck des Geistigen. Dessen Darstellung im Konkreten schien hierfür nicht mehr geeignet zu sein. Im Expressionismus gab es zwar Versuche, die sichtbare Realität durch neuartige Form- und vor allem Farbgebung aufzubrechen und damit Emotionen sichtbar werden zu lassen, doch erreichten erst die späten Arbeiten von Wassily Kandinsky den gewünschten Durchbruch. Allerdings gelang es der schwedischen Malerin Hilma af Klint bereits 1906 in die Abstraktion zu gehen um geistige Vorgänge zu manifestieren. Da sie lange im Verborgenen arbeitete, kennt man ihre wichtige Pionierarbeit jedoch erst seit wenigen Jahren.


Ausdruck des Geistigen im Konkreten

Dieser knappe Rückblick zeigt auf, dass Sylvia Seelmann genau den umgekehrten Weg gegangen ist. Als zeitgenössische Malerin ist sie bereits in der Abstraktion beheimatet und strebt seit ihrer prägenden Pilgerreise nach dem künstlerischen Ausdruck des Geistigen im Konkreten. Sie möchte die Natur so darstellen, dass die machtvolle Ausstrahlung der jeweiligen Landschaft – man könnte auch sagen die Seele der Landschaft – beim Betrachten tatsächlich erfahrbar wird.

Aus diesem ersten Bemühen geht 2017 die Arbeit Reflections hervor. Sie ist stark von der oben erwähnten Ausdrucksweise des Expressionismus geprägt, was die kräftige, verfremdete Farb- und die stark reduzierte Formgebung zeigt. Dennoch ist das Dargestellte als Waldstück mit Wasser sofort zu erkennen. Das Bild zeigt deutlich den Übergang, wie ihn bereits die Malerinnen und Maler des frühen 20. Jahrhunderts vollzogen haben, aber bei Sylvia Seelmann eben in Richtung Gegenständlichkeit.

Ein Zeitsprung ins Jahr 2022 zeigt ihre künstlerische Entwicklung im sehr großformatigen Werk Nebelwald. Teils vermooste Bäume mit etwas Blattwerk, die sich am tiefgezogenen Horizont im Nebel verlieren und dichte Farne beherrschen das Bild. Als Betrachterin fühlt man sich hineingezogen und kann selbst Teil des Urwaldes werden, von dem weder Anfang noch Ende zu sehen ist. Die Arbeit ist während eines wochenlangen, sehr intensiven Malprozesses entstanden und macht deutlich, dass Sylvia Seelmanns Intention aufgeht.


Entdeckungen im Umfeld und auf Reisen

Doch wirklich typisch für all die Jahre, die zwischen den ersten Versuchen der besonderen Naturdarstellung und heute liegen, sind die Sumpfbilder mit ihrem neonartig-schwebendem Grün im starken Kontrast zum dunklen Wasser und dem Blau des Himmels. Anregungen für das Thema bekam Sylvia Seelmann durch den Erlenbruch in der Nähe ihres Ateliers in Berlin-Frohnau. Die Sümpfe dort, aber auch die anderen Landschaften regen sie bis heute zur künstlerischen Auseinandersetzung an. Handyfotos von Streifzügen durch die Natur, von Spaziergängen und Wanderungen dienen ihr als Anregung und Gedächtnisstütze. Der Sprung von der Abstraktion in die gegenständliche Kunst sollte nach ihren Worten aber keine „Romantisierung“ der Naturmotive zur Folge haben, sondern hinführen zu einer „zeitgemäßen Neuerkundung des Erfahrungsraums Landschaft“.


Die Light Trap-Serie

In der Light Trap-Serie aus dem Jahr 2017 bis 2019 sind die teils in Rosatönen gehaltenen Baumstämme noch stark abstrahiert, das Blattwerk ist eher zu erahnen. Der spezielle Blickwinkel von oben in Light Trap IV bewirkt, dass die Bäume allein in ihrer Spiegelung im Wasser vollständig sichtbar sind. In Light Trap V führt Sylvia Seelmann die Stämme schließlich in einer abstrahierenden Vertikalen nahtlos durch das Wasser. Doch schon hier bringt sie dichte Felder von leuchtend gelbgrünen Wasserlinsen mit der Tiefe und Transparenz des Sumpfes in spannungsvolle Berührung. Diese Farbfelder schwimmen wie Fetzen eines Teppichs auf der Wasseroberfläche und bringen einerseits Leben und Dynamik ins Bild, während sie dem Auge zugleich Halt und Orientierung in der Komposition bieten. Die Wasserlinsen bilden eine Art Haut zwischen den Elementen Wasser und Luft. Totholz liegt quer über dem grünen „Teppich“. Überall dort, wo dieser Lücken aufweist, spiegeln sich die Bäume im Schwarzblau des Wassers. Dieses subtile Spiel des Öffnens und Schließens, des Spiegelns und Überlagerns unterschiedlicher Ebenen zieht die faszinierten Blicke der Betrachter hinunter in die geheimnisvolle, unergründliche Tiefe des Sumpfes.

In einer Fortsetzung der Serie, in Light Trap IX bis XI, zoomt die Künstlerin schließlich in die Komposition hinein und löst einen Ausschnitt der Wasseroberfläche als Closeup aus dem Bild heraus: Gelbe Sonnenflecken tanzen auf den Wasserlinsen und dazwischen wechseln das Schwarz der Baumspiegelung und das leuchtende Blau des Wassers. Würde man die Vorgeschichte des Motivs nicht kennen, stünde man einem vollkommen abstrakten Gemälde gegenüber.


Schönheit in den Tiefen des Unbewussten

Doch besonders hier, so nah über der Wasseroberfläche, wird man sich der Tiefe bewusst, die unter der fragilen Haut der Wasserlinsen liegt. Vollkommene Dunkelheit verbirgt sich geheimnisvoll-schwärzlich, unbekannt und möglicherweise auch gefährlich unter dem fröhlichen Farbspiel der Oberfläche. Hier kommen wir mit der Dimension unseres Bewusstseins und den Schatten des Unbewussten in Berührung, mit der möglichen Furcht, die durch den dunklen, undurchschaubaren Sumpf in uns anklingt. Doch Sylvia Seelmann nimmt dem Szenario den Schrecken, indem sie die Schönheit des Ganzen sichtbar macht. Auch spielerisch geht sie damit um, indem sie in Creek von 2018 mehrere Closeups in sehr schmalen und langen Querformaten aneinanderreiht und als Fries wirken lässt.

In jüngeren Arbeiten, wie Briese I und Briese II von 2020 erscheinen die Wasserlinsen mit den hellen Sonnenflecken dicht und undurchdringlich. Sie beherrschen den gesamten Bild-Vordergrund, nur wenige Lücken zeigen Wasser und Tiefe. Die Bäume säumen lediglich die Ränder und bilden den Fluchtpunkt am hochliegenden Horizont.

In den Jahren 2020 und 2021 stand die Serie Water Landscape im Fokus. Hier ist es das Wasser mit den Spiegelungen der Bäume, das einen Großteil der Bildfläche einnimmt. Seen- und Flusslandschaften, nun auch im Hochformat wie Water Landscape VI, zeigen eine vollkommen andere Wirkung durch den weitgehenden Verzicht auf das Grün des „Teppichs“.


Inneres Leuchten der Farben

Mittlerweile jongliert Sylvia Seelmann mit den Jahres- und Tageszeiten ihrer Motive (Swamp at Night 2022) und setzt die Farben dabei entsprechend virtuos ein. Das innere Leuchten, das besonders ihre jüngeren Bildwerke auszeichnet, erzielt sie durch die Grundierung der Leinwand mit hochwertiger Leuchtfarbe auf Acrylbasis, die sie immer neu mischt, abgestimmt auf jedes einzelne Werk. Dieses Strahlen aus der Tiefe, verbunden mit einer gewissen Leichtigkeit und Transparenz im Farbauftrag ist ihr wichtig, damit die Betrachter ihrer Bilder die Möglichkeit bekommen, in die Landschaften einzutauchen und sich frei darin bewegen zu können. Durch Kontemplation ist es möglich, die beseelte Natur im Bild zu spüren. In dieser Erfahrung der Entgrenzung wird die eigene geistige Natur im Spiegel der Landschaft erlebbar.

Der Zugang zum kontemplativen Moment wird umso leichter, je stärker die Künstlerin mit Brüchen in der Realität arbeitet. Die Serien Alder Swamp von 2019 bis 2021 und Darß Swamp von 2022 wirken der sichtbaren Natur enthoben, fast wie Traumlandschaften. Neben der leuchtenden Farbigkeit spielen hier auch der jeweilige Lichteinfall und der Standpunkt der Betrachter eine Rolle. Durch die klassische Fluchtperspektive wird man in das Bild hineingeführt, während das Vertikale der einzeln stehenden Bäume im Wasser rhythmisierend wirkt. Faszinierend ist, wenn das leuchtende Grün der Wasserlinsen fast durchgängig regelrecht entgegen springt, besonders sobald sich lange Baumschatten bei tiefliegender Sonne darauf abzeichnen, wie bei Alder Swamp IX.


Ausblick

Doch auch die vollkommen neue Perspektive in Bright Swamp 2022 zeigt starke Wirkung. Wieder stehen wir quasi mitten im Sumpf, vor uns abgestorbene und aus dem Wasser ragende lebende Bäume. Doch diesmal lenkt die Künstlerin unser betrachtendes Auge über den linken Bildrand einer Allee entlang in die Tiefe hinein. Die Blickachse liegt gleichzeitig so hoch, dass wir noch die leichte Hügellandschaft weit im Hintergrund erkennen können. Hier scheint der Beginn von neuen, weiteren Raumerkundungen durch die Malerin zu liegen. Sumpflandschaften, Erlenbrüche, Flüsse und Wälder, üppige Vegetation, Versunkenes, raue Hölzer und samtige Moose werden immer weiter ergründet und für uns künstlerisch erschlossen. Wer sich dafür öffnet und die Bilder tief wirken lässt, wird mit einem reichen Erfahrungsschatz belohnt.


© 2022 Dr. Ingrid Gardill, Kunsthistorikern